Montag, 27. April 2015

Bergen-Belsen


Orte wie Bergen-Belsen und Flossenbürg sind in diesen Tagen in den Nachrichten. Wahrscheinlich sind sie es in der nächsten Woche nicht mehr. Man wird nicht gerne an die Schuld erinnert. Vor allem, wenn es eine unermessliche Schuld ist, wie der ➱Bundespräsident gestern sagte. Aber was sind die Reden mehr als Verbandwatte für die Wunden der Erinnerung? Vor zwei Jahren schrieb ich in dem Post ➱OradourWährend der Bundespräsident in Frankreich der Opfer des SS Massakers gedachte, besuchte auf der anderen Seite des Rheins die Bundeskanzlerin Angela Merkel das Konzentrationslager Dachau. Sie erlebte dort 'einen sehr bewegenden Moment der Trauer und Scham'. Das hat sie vom Blatt abgelesen. Es war eben nur ein Moment. Sieben Minuten später ist sie für eine Wahlkampfveranstaltung in Dachau im Bierzelt, wo ihre Anhänger schon 'Angie, Angie' grölen. Und wo sie bayrisches Bier trinkt. Mir fällt dazu kein Schlusswort ein.

Als ich 1964 mit den Bundeswehr in Frankreich war, haben wir Oradour nicht besucht, obwohl es nicht weit weg war. Als ich Monate später auf dem Truppenübungsplatz Bergen-Hohne war, hat niemand von den Offizieren des Bataillons daran gedacht, die Gedenkstätte zu besuchen. Aber sie sind ja auch nicht zu dem Festgottesdienst für Winston Churchill gegangen. Viele der Offiziere meines Bataillons waren noch Soldaten im Zweiten Weltkrieg gewesen, sie hatten es noch nicht gelernt, mit der Vergangenheit fertig zu werden. Und sie hatten es auch nicht, wie unsere Politiker, gelernt, mit Worthülsen wie einem sehr bewegenden Moment der Trauer und Scham einen symbolischen Akt zu verschönern. In der Offiziersmesse der Engländer hing ein Ölbild von der Schlacht von ➱Waterloo, an den Fluren unserer Unterkünfte hingen Photos von Generälen der Wehrmacht. Ein Bild vom Lager Bergen-Belsen war nirgends zu sehen.

Ich hatte von der Armee mit dem Konzept des Bürgers in Uniform mehr erwartet, die Schule hatte mehr gegeben. Denn im amerikanisch besetzten Bremen gab es mit der sechsjährigen Volksschule eine strikte Erziehung zur Demokratie. Es wurde des ➱Zweiten Weltkriegs gedacht, und bei jeder Berlin Reise gab es einen Besuch von ➱Plötzensee im Pflichtprogramm. Damit wir uns Erwin Leisers Mein Kampf in Bremen ansehen konnten, gab es schulfrei.

Der Truppenübungsplatz Bergen-Hohne war erst wenige Jahre zuvor an die Bundeswehr übergeben worden, bis 1958 hatte er den Engländern gehört. Sie haben nicht alles zurückgegeben, das Schloss Bredebeck haben sie als Offiziersclub behalten. Wahrscheinlich wird da die Queen wohnen (die königliche Familie hat da schon häufiger gewohnt), wenn sie im Juni Bergen-Belsen besucht. Die Engländer haben das Lager vor siebzig Jahren befreit, einer der ersten Offiziere ist Major Brian Urquhart gewesen, der den Lagerkomandanten Josef Kramer (Bild) am nächsten Tag seinem Vorgesetzten General Horrocks vorführt. Horrocks hatte schon ➱Bremen erobert und das KZ ➱Sandbostel befreit (beide Ereignisse haben einen Post in diesem Blog), jetzt sieht er die Schrecken von Bergen-Belsen.

Einer der englischen Offiziere, der das Lager in den ersten Wochen auch sieht, ist der Captain Derek van den Bogaerde (den wir besser als Dirk Bogarde kennen) gewesen. John Coldstream, der Autor einer Biographie von Sir Derek bestreitet das, aber ich möchte über seine Biographie nichts sagen, das habe ich schon in dem Post ➱Dirk Bogarde getan. Diesen Herrn, der sich im Mittelgrund an einen Panzer lehnt, werden Sie nicht kennen - aber ganz England kennt ihn. Auch er war in Bergen-Belsen.

Es ist der Cartoonist Carl Giles, der hier als Kriegskorrespondent bei den Coldstream Guards ist. Und der in diesem Cartoon im Daily Express 1944 seine Tätigkeit sehr ironisch sieht: Nearly had to do without a cartoon in tomorrow’s paper that time, didn’t they? steht unter dem Cartoon. Der englische Kriegskorrespondent Giles wird Josef Kramer interviewen, den die Presse in England nur die Bestie von Belsen nennt.

Und nun kommen wir in den Bereich des Absurden: der SS Hauptsturmführer Kramer weiß, wer Carl Giles ist, er liebt seine Cartoons. Und möchte von ihm gerne ein signiertes Original haben, er gibt Giles seine P38 dafür. Carl Giles hat in einem Interview gesagt: I have to say, that I quite liked the man. I am ashamed to say such a thing. But had I not been able to see what was happening outside the window I would have said he was very civilised. Odd, isn't it? But maybe there was a rather dishonourable reason. I have always found it difficult to dislike someone who was an admirer of my work. And strangely, Kramer was. I never sent him an original. What was the point? He had been hanged. Das verlassene Lager Breendonk in Belgien hat er gezeichnet. Bergen-Belsen wird er nicht zeichnen. Er wird das Erlebnis mit den vielen Toten nie loswerden.

Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, hat Theodor W. Adorno gesagt. ➱Paul Celan hat seine Todesfuge dennoch geschrieben. Das ➱Gedicht, das damals in unseren Lesebüchern stand, ist berühmter geworden, als andere Lyrik zu diesem Thema. Es war allerdings nicht das erste Gedicht. 1945 veröffentlichte die amerikanische Zeitschrift Poetry das Gedicht Protocols von Randall Jarrell (dem wir auch das eindrucksvolle ➱Gedicht The Death of the Ball Turret Gunner verdanken):

We went there on the train. They had big barges
that they towed,
We stood up, there were so many I was squashed.
There was a smoke-stack, then they made me wash.
It was a factory, I think. My mother held me up
And I could see the ship that made the smoke.

When I was tired my mother carried me.
She said, "Don't be afraid." But I was only tired.
Where we went there is no more Odessa.
They had water in a pipe--like rain, but hot;
The water there is deeper than the world

And I was tired and fell in my sleep
And the water drank me. That is what I think.
And I said to my mother, "Now I'm washed and dried,"
My mother hugged me, and it smelled like hay
And that is how you die. And that is how you die.

Ich weiß nicht, ob Randall Jarrell das Gedicht Ein totes Kind spricht von Nelly Sachs im Jahre 1945 schon kennen konnte. Das Gedicht wurde 1947 in dem ➱Gedichtband In den Wohnungen des Todes veröffentlicht, war jedoch wohl schon früher geschrieben. Es soll aber unbedingt heute hier stehen:

Die Mutter hielt mich an der Hand. 
Dann hob Jemand das Abschiedsmesser: 
Die Mutter löste ihre Hand aus der meinen, 
Damit es mich nicht träfe. 
Sie aber berührte noch einmal leise meine Hüfte – 
Und da blutete ihre Hand –

Von da ab schnitt mir das Abschiedsmesser 
Den Bissen in der Kehle entzwei – 
Es fuhr in der Morgendämmerung mit der Sonne hervor 
Und begann, sich in meinen Augen zu schärfen – 
In meinem Ohr schliffen sich Winde und Wasser, 
Und jede Trostesstimme stach in mein Herz –

Als man mich zum Tode führte, 
Fühlte ich im letzten Augenblick noch 
Das Herausziehen des großen Abschiedsmessers.

Dienstag, 14. April 2015

Abraham Lincoln


Wenn man dieses Photo mit einer Stelle aus dem Roman The Red Badge of Courage von ➱Stephen Crane versieht, dann erhält man einen Eindruck vom amerikanischen Bürgerkrieg: ‘This time we’re in for a big battle, and we’ve got the best end of it, certain sure. Gee rod! How we will thump ‘em!’ He arose and began to pace to and fro excitedly. The thrill of his enthusiasm made him walk with an elastic step. He was sprightly, vigorous, fiery in his belief of success. He looked into the future with clear, proud eye, and he swore with the air of an old soldier. Das Photo zeigt Soldaten des Südens vor der ersten Schlacht des Bürgerkriegs in Bull Run. So steht es in Francis Millers Photographic History of the Civil War von 1911. Das hat man hundert Jahre geglaubt. Nichts davon ist wahr.

Als man John Brown, der für viele Gegner der Sklaverei ein Held war, im Dezember 1859 in Charles Town hinrichtet, steht in der Menschenmenge auch eine Kompanie der Miliz von Richmond, die Virginia Grays. Einer ihrer Soldaten ist ein junger Mann namens Philip Whitlock. Auf dem Photo, das von den Virginia Grays im Dezember 1859 in Harper's Ferry aufgenommen wurde (und nicht 1861 bei Bull Run), ist er oben ganz rechts zu sehen. Er wird nach dem Bürgerkrieg noch reich und berühmt werden, seine ➱Zigarrenmarke Old Virginia Cherots kennt dann jedermann in Amerika. 1886 stellt er 33 Millionen Zigarren her. Fünf Jahre später kauft die American Tobacco Company sein Unternehmen.

Der Mann, den wir als Philip Whitlock kennen, kommt aus Włocławek in Polen. Mit fünfzehn war er dort geflohen, weil ihn die russische Armee einziehen wollte. Hatte in Bremerhaven das nächste Schiff genommen, das er bezahlen konnte und war nach Amerika gesegelt. Er spricht kein Wort Englisch, als er in New York ankommt, nur Deutsch und Jiddisch. Sechs Jahre später wird er Bürger der Vereinigten Staaten sein.

Und freiwillig in die Miliz der Virginia Grays eintreten: While I was very patriotic and I loved the country of my adoption being a full-fledged citizen. I was ready to fight for its rights. Especially since I was of the Jewish faith, I thought that if I was negligent in my duty as a citizen of this country, it would reflect unfavorably on the entire Jewish race and religion. Die Virginia Grays bestehen zu der Zeit zum großen Teil aus jüdischen Einwanderern, auch die reguläre Truppe der Richmond Light Infantry Blues wird einen hohen Anteil an ➱Einwanderern haben. Philip Whitlock hat sich seine Uniform selbst geschneidert, das Handwerk hat er bei seinem Bruder gelernt. Während des Bürgerkriegs wird er weniger von der Front sehen als von Nadel und Faden; wegen einer Erkrankung schickt man ihn vorzeitig nach Richmond zurück, damit er ➱Uniformen für das Confederate Quartermaster's Department nähen kann.

Er wird nach dem Krieg die Tabakindustrie von Richmond aufbauen und zu einem der geachtetsten Mitglieder der jüdischen Gemeinde von Richmond werden. Er ist einer der ➱Immigranten, deren American Dream wahr geworden ist. Und er ist einer der jüdischen ➱Geschäftsleute, die dem darnieder liegenden Süden zeigen, dass ein Aufstieg des Phönix aus der Asche möglich ist. Auch wenn man dabei zu solcher Werbung greifen muss, aus der wir schließen können, dass sich am Status der Schwarzen im Süden wenig geändert hat.

Whitlock hat uns einige autobiographische Aufzeichnungen hinterlassen: The Life of Philip Whitlock, Written by Himself. Die werden von Historikern gerne zitiert. Wegen einer einzigen Passage. Denn bei der Hinrichtung von John Brown im Dezember 1859 steht neben ihm ein anderer junger Mann, der zwei Monate jünger ist als er. Der auch noch berühmt werden wird. Er heißt John Wilkes Booth:

The 1st Regiment assembled on Broad St. near the depot, which was then on the corner of 8th where the old Bijou now stands--that was one Saturday night about the 1st of December, in the year 1859. Many of us were surprised to see John Wilkes Booth, who was then acting in the Marshall Theatre, in a Richmond Gray uniform. We afterwards were informed that he joined the Company in order to go along with us. He is the same John Wilkes Booth who shot Abe Lincoln just after the war. We got to Charlestown and there we met a great many soldiers from the whole State of Virginia. Among them were many who have made History since: General Lee, J.E.B. Stewart, and many others. We staid there three weeks until he was hung, in which our company was present as a Body Guard, being about 30 feet from the gallows. John Wilkes Booth, being about the same height as I, was right next to me in rank. When the drop fell, I noticed that he got very pale, and I called his attention to it. He said that he felt very faint and that he would give anything for a good drink of whiskey. Of course, he did not get it then. We stayed in Charlestown about three weeks and then returned to Richmond.

Heute vor 150 Jahren hat John Wilkes Booth den amerikanischen Präsidenten Abraham Lincoln erschossen.

Wie es der Zufall will, fand ich gestern, als ich den Schreibtisch aufräumte, den Gedichtband Brief Lives von Red Shuttleworth. Bevor ich ihn an den Ort zurückstellte, an den er gehört, las ich noch einmal darin. Und was ist das erste Gedicht, das ich aufschlage? Es ist Dave Kelly gewidmet und heißt John Wilkes Booth (1938). Hätte ich das nicht gefunden, dann hätte ich natürlich für diesen Tag ➱Walt Whitmans ➱Gedicht When Lilacs Last in the Door-yard Bloom’d genommen. So aber gibt es heute Red Shuttleworth:

Between Post and Clairemont, there are,
for one peculiar mile, as many fence posts
as there are skinned wolves dangling off them,
over two-hundred nearly identical grimaces.
I am no more Lincoln's assassin than you, friend,
but you have paid twenty-five cents to leer
at my arsenic-embalmed black flesh, to peek
up my khaki shorts, to ruffle my white hair.
I am John St. Helen from Enid, Oklahoma,
a lovesick suicide stuffed with straw.
My left leg is shorter, thus I am Booth?
I swallowed a B-engraved pendant for jealousy's
blue flame, so I am Booth? But shake my hand,
place my palm upon your true love's breast.

Lesen Sie auch: ➱John Brown,  ➱This Place of Memory