Orte wie Bergen-Belsen und Flossenbürg sind in diesen Tagen in den Nachrichten. Wahrscheinlich sind sie es in der nächsten Woche nicht mehr. Man wird nicht gerne an die Schuld erinnert. Vor allem, wenn es eine unermessliche Schuld ist, wie der ➱Bundespräsident gestern sagte. Aber was sind die Reden mehr als Verbandwatte für die Wunden der Erinnerung? Vor zwei Jahren schrieb ich in dem Post ➱Oradour: Während der Bundespräsident in Frankreich der Opfer des SS Massakers gedachte, besuchte auf der anderen Seite des Rheins die Bundeskanzlerin Angela Merkel das Konzentrationslager Dachau. Sie erlebte dort 'einen sehr bewegenden Moment der Trauer und Scham'. Das hat sie vom Blatt abgelesen. Es war eben nur ein Moment. Sieben Minuten später ist sie für eine Wahlkampfveranstaltung in Dachau im Bierzelt, wo ihre Anhänger schon 'Angie, Angie' grölen. Und wo sie bayrisches Bier trinkt. Mir fällt dazu kein Schlusswort ein.
Als ich 1964 mit den Bundeswehr in Frankreich war, haben wir Oradour nicht besucht, obwohl es nicht weit weg war. Als ich Monate später auf dem Truppenübungsplatz Bergen-Hohne war, hat niemand von den Offizieren des Bataillons daran gedacht, die Gedenkstätte zu besuchen. Aber sie sind ja auch nicht zu dem Festgottesdienst für Winston Churchill gegangen. Viele der Offiziere meines Bataillons waren noch Soldaten im Zweiten Weltkrieg gewesen, sie hatten es noch nicht gelernt, mit der Vergangenheit fertig zu werden. Und sie hatten es auch nicht, wie unsere Politiker, gelernt, mit Worthülsen wie einem sehr bewegenden Moment der Trauer und Scham einen symbolischen Akt zu verschönern. In der Offiziersmesse der Engländer hing ein Ölbild von der Schlacht von ➱Waterloo, an den Fluren unserer Unterkünfte hingen Photos von Generälen der Wehrmacht. Ein Bild vom Lager Bergen-Belsen war nirgends zu sehen.
Ich hatte von der Armee mit dem Konzept des Bürgers in Uniform mehr erwartet, die Schule hatte mehr gegeben. Denn im amerikanisch besetzten Bremen gab es mit der sechsjährigen Volksschule eine strikte Erziehung zur Demokratie. Es wurde des ➱Zweiten Weltkriegs gedacht, und bei jeder Berlin Reise gab es einen Besuch von ➱Plötzensee im Pflichtprogramm. Damit wir uns Erwin Leisers Mein Kampf in Bremen ansehen konnten, gab es schulfrei.
Der Truppenübungsplatz Bergen-Hohne war erst wenige Jahre zuvor an die Bundeswehr übergeben worden, bis 1958 hatte er den Engländern gehört. Sie haben nicht alles zurückgegeben, das Schloss Bredebeck haben sie als Offiziersclub behalten. Wahrscheinlich wird da die Queen wohnen (die königliche Familie hat da schon häufiger gewohnt), wenn sie im Juni Bergen-Belsen besucht. Die Engländer haben das Lager vor siebzig Jahren befreit, einer der ersten Offiziere ist Major Brian Urquhart gewesen, der den Lagerkomandanten Josef Kramer (Bild) am nächsten Tag seinem Vorgesetzten General Horrocks vorführt. Horrocks hatte schon ➱Bremen erobert und das KZ ➱Sandbostel befreit (beide Ereignisse haben einen Post in diesem Blog), jetzt sieht er die Schrecken von Bergen-Belsen.
Einer der englischen Offiziere, der das Lager in den ersten Wochen auch sieht, ist der Captain Derek van den Bogaerde (den wir besser als Dirk Bogarde kennen) gewesen. John Coldstream, der Autor einer Biographie von Sir Derek bestreitet das, aber ich möchte über seine Biographie nichts sagen, das habe ich schon in dem Post ➱Dirk Bogarde getan. Diesen Herrn, der sich im Mittelgrund an einen Panzer lehnt, werden Sie nicht kennen - aber ganz England kennt ihn. Auch er war in Bergen-Belsen.
Es ist der Cartoonist Carl Giles, der hier als Kriegskorrespondent bei den Coldstream Guards ist. Und der in diesem Cartoon im Daily Express 1944 seine Tätigkeit sehr ironisch sieht: Nearly had to do without a cartoon in tomorrow’s paper that time, didn’t they? steht unter dem Cartoon. Der englische Kriegskorrespondent Giles wird Josef Kramer interviewen, den die Presse in England nur die Bestie von Belsen nennt.
Und nun kommen wir in den Bereich des Absurden: der SS Hauptsturmführer Kramer weiß, wer Carl Giles ist, er liebt seine Cartoons. Und möchte von ihm gerne ein signiertes Original haben, er gibt Giles seine P38 dafür. Carl Giles hat in einem Interview gesagt: I have to say, that I quite liked the man. I am ashamed to say such a thing. But had I not been able to see what was happening outside the window I would have said he was very civilised. Odd, isn't it? But maybe there was a rather dishonourable reason. I have always found it difficult to dislike someone who was an admirer of my work. And strangely, Kramer was. I never sent him an original. What was the point? He had been hanged. Das verlassene Lager Breendonk in Belgien hat er gezeichnet. Bergen-Belsen wird er nicht zeichnen. Er wird das Erlebnis mit den vielen Toten nie loswerden.
Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, hat Theodor W. Adorno gesagt. ➱Paul Celan hat seine Todesfuge dennoch geschrieben. Das ➱Gedicht, das damals in unseren Lesebüchern stand, ist berühmter geworden, als andere Lyrik zu diesem Thema. Es war allerdings nicht das erste Gedicht. 1945 veröffentlichte die amerikanische Zeitschrift Poetry das Gedicht Protocols von Randall Jarrell (dem wir auch das eindrucksvolle ➱Gedicht The Death of the Ball Turret Gunner verdanken):
We went there on the train. They had big barges
that they towed,
We stood up, there were so many I was squashed.
There was a smoke-stack, then they made me wash.
It was a factory, I think. My mother held me up
And I could see the ship that made the smoke.
When I was tired my mother carried me.
She said, "Don't be afraid." But I was only tired.
Where we went there is no more Odessa.
They had water in a pipe--like rain, but hot;
The water there is deeper than the world
And I was tired and fell in my sleep
And the water drank me. That is what I think.
And I said to my mother, "Now I'm washed and dried,"
My mother hugged me, and it smelled like hay
And that is how you die. And that is how you die.
Ich weiß nicht, ob Randall Jarrell das Gedicht Ein totes Kind spricht von Nelly Sachs im Jahre 1945 schon kennen konnte. Das Gedicht wurde 1947 in dem ➱Gedichtband In den Wohnungen des Todes veröffentlicht, war jedoch wohl schon früher geschrieben. Es soll aber unbedingt heute hier stehen:
Die Mutter hielt mich an der Hand.
Dann hob Jemand das Abschiedsmesser:
Die Mutter löste ihre Hand aus der meinen,
Damit es mich nicht träfe.
Sie aber berührte noch einmal leise meine Hüfte –
Und da blutete ihre Hand –
Von da ab schnitt mir das Abschiedsmesser
Von da ab schnitt mir das Abschiedsmesser
Den Bissen in der Kehle entzwei –
Es fuhr in der Morgendämmerung mit der Sonne hervor
Und begann, sich in meinen Augen zu schärfen –
In meinem Ohr schliffen sich Winde und Wasser,
Und jede Trostesstimme stach in mein Herz –
Als man mich zum Tode führte,
Als man mich zum Tode führte,
Fühlte ich im letzten Augenblick noch
Das Herausziehen des großen Abschiedsmessers.