Sonntag, 7. September 2014

Fallex


Mir geht die Sache mit dem Krieg in diesen Tagen nicht aus dem Kopf. Wir haben ja in diesem Jahr diesen traurigen Jubiläen: den Beginn des Ersten Weltkriegs vor hundert Jahren, den des Zweiten Weltkriegs vor fünfundsiebzig Jahren. Und überall ist Krieg, oder es gibt kriegsähnliche Zustände. Sie haben sich wahrscheinlich schon gedacht, dass der Post ➱Gräber gestern aus meinen Bremensien stammte. Er ist da das sechste Kapitel. Vor ihm steht ein Kapitel, das 'Fallex: Der Krieg ist nie zu Ende' heißt. Ich stelle das heute mal hier ein:

Ich habe allerdings diese zweite Heimat (lesen Sie dazu mehr in ➱Zweite Heimat), die Gegend links und rechts des Mittellandkanals, mehr als zwanzig Jahre nach Kriegsende auf eine ganz andere Art und Weise wieder gesehen, bei der die Bombardierung der Brücken des Mittellandkanals wieder aktuell war. Ich war bei einer Wehrübung als Reserveoffizier Schiedsrichter im Rahmen einer Stabsrahmenübung, die den schönen Namen FALLEX und die Jahreszahl trug. Diese Fallex-Manöver (hinter denen sich nur der Begriff fall exercise verbarg) hatten die Bundesrepublik schon in den Jahren zuvor in ihren Grundfesten erschüttert. Fallex 1962 diente dem Spiegel zu seinem Artikel Bedingt abwehrbereit, Konrad Adenauer sprach im Bundestag von einem Abgrund von Landesverrat, Franz Josef Strauß ließ die Spiegel Redaktion in einer Nacht-und-Nebel-Aktion verhaften. Ein schmieriger ehemaliger Ritterkreuzträger und Reserveoberst, der wenig später zum Brigadegeneral der Reserve befördert wurde, spielte in der Affäre eine widerliche Chargenrolle. An unserer Schule wird sich später hartnäckig das Gerücht halten, dass unser ehemaliger Schulsprecher Gert dem Spiegel militärisches Material zugespielt hätte. Was aber nicht stimmt, er war damals noch kein Offizier. Es ist ein späterer Skandal (den natürlich auch der Spiegel aufdeckte), bei dem er eventuell der Informant gewesen sein könnte. Wenn die junge Bundeswehr eins hat, dann sind es Skandale. Gerts Karriere haben die Gerüchte nicht geschadet, er wurde noch Oberst im Generalstab. Natürlich bei den Panzeraufklärern, wie es sich für jemanden mit einem alten Adelsnamen gehörte.

Fallex 1966 war das erste Manöver, bei dem die Bundesregierung  in einem Bunker saß und mit zu den Akteuren gehörte (es war nicht die wirkliche Regierung, sondern nur die Bundesregierung [Ueb]). Und wo man endlich die neuen, noch nicht verabschiedeten Notstandsgesetze (wenn auch nur auf dem Papier) ausprobieren konnte. Und sie der SPD so schmackhaft machte, weshalb sie auch den schönen Namen Bunkergesetze bekommen sollten. Auf die Bedenken von Karl Jaspers, den die Deutschen in den fünfziger Jahren noch zu ihrem Lieblingsphilosophen zählten, hörte keiner mehr.

Ansonsten richteten diese Stabsrahmenübungen wenig Schaden an, da keine Truppen beteiligt sind, nur Kommandostäbe von der Kompanie aufwärts bis zur Brigade. Die Schiedsrichter besaßen den ganzen Ablaufplan des Manövers (den die übenden Stäbe nicht kannten) und simulierten zu einem fest gesetzten Zeitpunkt neue militärische Lagen. So konnten junge Reserveoffiziere wie ich Generäle in Angst und Verzweiflung stürzen. Es war ein schönes Gefühl. Meine Überlegenheit gegenüber den Kommandeuren rührte auch daher, dass ich diese ganze Gegend seit meiner Jugend kannte, jene aber häufig nicht in der Lage waren, die ➱Karten richtig zu lesen. Die Schiedsrichter wurden von den übenden Berufsoffizieren gehasst, weil sie das Gefühl der Angst verursachten, die Angst, dass eine falsche Entscheidung das Ende der Karriere bedeuten könnte. Der Hass zeigte sich in tausend kleinen Nickligkeiten, zu deren Krönung es gehörte, dass es nichts zu essen gab. Der Verpflegungswagen war leider immer schon weg, wenn die Schiedsrichter ankamen.

Trotzdem haben mein Jeepfahrer und ich immer gut gegessen in diesen Tagen, weil ich mit ihm zusammen alle Verwandten und alle Freunde meiner Eltern aus den vierziger Jahren besuchte: Gucke mal, Omma, da iss Jay. Der Junge von Marie Luise. Ansonsten spielte man im Manöver militärische Lagen zwischen Blau und Rot durch, die alle Anwohner dieser Gegend noch aus den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs kannten. Dieser Teil der Übung hieß Herbststurm, das gleichzeitig stattfindende Manöver der DDR hieß Oktobersturm. Man kann heute in den Protokollen des Nationalen Sicherheitsrates der DDR nachlesen, dass sie alle Bundeswehrmanöver sorgfältig ausgewertet haben. Die DDR wusste über das wirkliche Leben in der Bundeswehr damals mehr als der deutsche Verteidigungsminister, das bewies jeden Tag ihr Soldatensender auf 935 Kilohertz (natürlich war es streng verboten, ihn zu hören). Die wussten, wann es einen NATO-Alarm gab, noch bevor der Bataillonskommandeur davon erfuhr.

Am Ende eines Manövers gewinnt immer Blau. Rot, das waren (natürlich niemals ausgesprochen) die Truppen des Warschauer Paktes. Rot durfte nicht gewinnen, auch nicht im Manöver. Die Bundesregierung (Ueb), die bei Fallex 66 zum ersten Mal Krieg spielen durfte, war ja nur bei einem Drittel des Manövers beteiligt worden. Der Rest ging leider nicht so gut für Blau aus. Hätten sie auf die Notstandsgesetze verzichtet, wenn sie gemerkt hätten, dass sie gerade den Krieg verloren hatten? Aber in diesem Herbst war alles anders. Atombomben konnten eingesetzt werden, ohne dass man über Jaspers Die Atombombe und die Zukunft der Menschheit nachdenken musste. Ab Brigadekommandeur aufwärts durften fünf Kilotonnen geworfen werden. Das Undenkbare war seit Fallex 62 denkbar geworden, auf jeden Fall schon mal in Stabsrahmenübungen. 

Der Brigadekommandeur kam von der Bonner Hardthöhe, dies war sein erstes Truppenkommando. Er war ein Schreibtischkarrierist, der in den ersten Monaten seiner Tätigkeit in dieser Brigade gegen alle Grundsätze der Inneren Führung und der Vernunft verstoßen hatte. Altgediente Offiziere (die zum Teil noch den Zweiten Weltkrieg mitgemacht hatten) wurden von ihm wie Schuljungen behandelt. Auf dem Truppenübungsplatz Munster hatten wir ihm gezeigt, wohin so etwas führt. Eine Nacht lang haben wir Offiziere alle Vorschriften gelesen, mit dem Erfolg, dass in den nächsten zwei Tagen kein einziger Schuss das Rotwild von Munster beunruhigte. Solange kein CO2 Filter in den Schutzmasken der Sanitätspanzerbesatzung war (und die tausend anderen Dinge, die in den Vorschriften stehen, wie zwei unabhängige Fermeldeverbindungen zum nächsten Krankenhaus) wurde hier nicht geschossen. Er hat damals klein beigegeben, aber nicht wirklich etwas daraus gelernt.

Er wusste während des ganzen Manövers nicht so recht, was er tat. Aber er wusste, und das hatten ihm seine Kumpels auf der Hardthöhe wohl vorher ganz klar gemacht, dass er seine Atombombe bis Sonnabendmittag zwölf Uhr Zulu-Zeit geworfen haben musste. Was er auch tat. Ich hatte gerade kurz zuvor das Lagezentrum der Schiedsrichter erreicht, wo an den Wänden speziell dafür umgebauter MAN Fünftonner Karten des Kriegsgebietes von der Porta Westfalica bis Osnabrück hingen, übersät mit farbigen Nadeln und Fähnchen. Der kommandierende Offizier, ein grauhaariger Oberst im Generalstab, hatte schon die feldgraue Uniform mit den karmesinroten Kragenspiegeln für die nachfolgende Besprechung mit der Manöverleitung angezogen. Über seiner obersten Ordensreihe waren kleine Schlaufen. Er trug das Ritterkreuz nicht, wie so viele Offiziere der ersten Stunde, die Schlaufen symbolisierten nur, dass es dahin gehören würde. In unserer Division hatten wir im Stab einen adligen Hauptmann, der niemals mehr befördert werden würde und sozusagen sein Gnadenbrot im Divisionsstab aß. Aber er war ein feiner, vornehmer und melancholischer Mensch, mit ausgesuchten Manieren. Er hatte eine Handbreit von Ordensreihen auf der Brust, Eichenlaub mit Schwertern etc. Er trug keinen seiner Orden, es waren da nur diese leeren Schlaufen.

Der Oberst i.G. nahm den Befehl zum Abwurf der taktischen Atombombe um zwei Minuten vor zwölf selbst am Feldtelephon entgegen. Ungläubig wiederholte er die Koordinaten, während er sie auf der Karte einzeichnete. Ließ sie sich bestätigen. Noch einmal. Und noch einmal. Roger and Out! sagte er. Und in diesem Augenblick rissen alle Funker ihre Kopfhörer von den Ohren und warfen sie voller Begeisterung an die Wagendecke. Der englische Manöverbeobachter, ein Lieutenant Colonel der 11th Hussars (➱Prince Albert’s Own), lächelte still und feinsinnig und nippte an seiner Teetasse. Unser Brigadekommandeur hatte soeben (12 Uhr Zulu-Zeit) seine eigene Brigade mit einer Atombombe vernichtet. Sollen wir trotzdem zünden? fragte ein Artilleriehauptmann den Oberst. Macht es, sagte der Oberst, Er wird diesen Anblick niemals vergessen. Das bezog sich auf einen immens teuren Feuerwerkskörper mit der schönen Bezeichnung Darstellungsmunition, der einmal gezündet den Steuerzahler zwar um 28.000 Mark ärmer machte, aber einen wunderschönen Atompilz produzierte, glücklicherweise ohne die radioaktiven Nebenwirkungen. Die Schiedsrichterbesprechung um 16 Uhr wurde gestrichen. Es gab eine Besprechung, aber die war nur noch für Dienstgrade ab Oberst im Generalstab aufwärts. Wir wurden vergattert, dass wir diese Geschichte niemals, aber auch niemals, erzählen dürften. Als ich nach einem halben Tag mein Bataillon erreichte, kannte schon jeder die Geschichte. 

Ich besuchte vorher noch einmal die Zivilbevölkerung, über die es im geheimen Lageplan hieß: Zivilbevölkerung ist teilweise geflüchtet, größtenteils aber zurückgeblieben ... Die Stimmung ist gedrückt. Familie Brüggemann in Bohmte gegenüber vom Bahnhofshotel (das in den 40er Jahren noch als Selings Hotel weit und breit berühmt war) mochte ich nicht erzählen, dass sie jetzt eigentlich tot wären und dass die ganze zweite Heimat meiner Jugend atomar vernichtet war. Die Karriere des Generals war glücklicherweise auch zu Ende. Er wurde zum Bundesamt für Beschaffung in Koblenz versetzt. Da kann er Wolldecken zählen bis zur Pensionierung und richtet keinen Schaden mehr an, sagte unser S-4, ein kriegsgedienter Hauptmann, dem der Brigadekommandeur ein Jahr zuvor übel mitgespielt hatte.

Uniformen


Die Offiziere Friedrichs des Großen trugen den blauen Rock des Königs ohne Dienstgradabzeichen, die wurden erst 1808 eingeführt. Da hatten die Preußen schon hundert Jahre eine einheitliche Uniform. Man wusste, wer wer war. Wenn jemand einen höheren Rang hatte, dann hatte er einen besseren Schneider. Und mehr Orden. Irgendwann füllte die Vielzahl der deutschen Uniformen ganze Bildbände. Zur Freude von Militaria Sammlern und Uniformfetischsten. Es ist vielleicht bezeichnend, dass der Herzog von Windsor eine komplette Knopfsammlung aller englischen Regimenter besaß. Zu dem schönen Bild von Thomas Lawrence können Sie übrigens ➱hier mehr lesen.

Und es ist ja nicht nur die Armee, die Uniformen trägt, es scheint so, als ob ein ganzes Volk die Uniform anbetet. Was ein Schuster, der nicht bei seinen Leisten bleiben will, ausnutzt. Er wird als Hauptmann von Köpenick berühmt werden (er ist übrigens nicht ohne Nachahmer, lesen Sie doch einmal den Post ➱Bunga Bunga). Aber die deutsche Uniform ist durch diese spektakuläre Aktion nicht diskreditiert worden. Nicht im Reiche von ➱Wilhelm II. Der sammelt ➱Uniformen aller Regimenter und Nationen und lässt sich noch im Alter darin photographieren.

Obgleich er in viele gar nicht mehr hineinpasste. Ich war mal in einer Ausstellung, wo hunderte solcher Photos gezeigt wurden. Und auch eine Handvoll der ➱Uniformen des kaiserlichen Uniformfetischisten, von Berliner Schneidern genäht. Man durfte die nicht anfassen, habe ich aber natürlich doch getan. Reine Handarbeit. Auf diesem Photo trägt er im Alter eine türkische Uniform, die er zum ersten Mal 1917 getragen hatte. Mit Wilhelm kommt der Krieg, da braucht man wieder neue Uniformen. Dann kommen die Nazis, und da gibt es wieder neue Uniformen. Und der Berliner Modepapst, der Hauptmann im Ruhestand von Eelking, schreibt die ➱Modefibel der Braunhemden.

Dann gab es erst einmal keine Uniformen mehr. Als die Bundeswehr kam, waren ihre Uniformen so abschreckend hässlich, dass die allein wohl keine Freiwilligen zum Dienst lockten. Den ersten Jackentyp, der sich an einem Jackett von General Eisenhower orientierte, gab man schnell wieder auf. In der Truppe hießen die Jacken Affenjacken (bei Militaria Sammlern sind sie heute heiß begehrt). Mein Kompaniechef trug so etwas noch, obgleich ihm der Kommandeur ständig nahelegte, die kurze Jacke doch endlich einzumotten. Denn die Dienstvorschrift 37/10 kannte diese Uniform schon gar nicht mehr. Aber er hatte sie sich nun mal schneidern lassen, aus ganz hellgrauem Stoff. Und er trug dazu seine Beretta in einem braunen Halfter. Das war gegen jede Vorschrift. Doch der Kommandeur ließ ihn gewähren, mein Chef war der beste Pistolenschütze der Division.

Seine elegante Affenjacke hatte die ganz hellgrünen Kragenspiegel, die die gepanzerte Infanterie früher mal im Unterschied zu den dunkelgrünen der Stoppelhopser trug. Diese feinen Distinktionen sind auch verloren gegangen. Wie die Stulpen an den Ärmeln der Uniformjacke, die ungeheuer praktisch waren. Und die Biesen an den Hosen in der Waffenfarbe, die auch sehr kleidsam sein konnten. Es herrschte in den ersten Jahren der Bundeswehr offensichtlich noch ein gewisser ➱Wirrwarr, denn diese Uniform des ersten Generalinspekteurs Adolf Heusinger ist wohl kaum uniform. Man würde sie wohl eher als sandfarben denn als grau bezeichnen.

Welche Uniform hätte die junge Bundeswehr bekommen sollen? Preußischblau wie hier Dieter Borsche in Königin Luise? Übrigens ein Film, der mit der Gründung der Bundeswehr zusammenfällt. Die ja in ihrem Geiste durchaus an den Freiheitswillen der preußischen Reformer im Kampf gegen Napoleon anknüpfen wollte. Der geistige Reformer der jungen Armee hieß Wolf Graf von Baudissin, sein philosophisches Konzept hieß Innere Führung. Um das Tuch des Waffenrocks hatte man sich damals keine großen Gedanken gemacht. Vielleicht hätte man sich Heinz Oestergaard (der ➱hier einen Post hat) als Berater nehmen sollen. Der deutsche Couturier wird eines Tages verantwortlich für die Uniformen der gelben Engel des ADAC, die gelb-grüne deutsche Polizeiuniform und die Dienstbekleidung der Beamtinnen der Bundeszollverwaltung sein.

Gegen die Leitgedanken von Baudissin wird es später einen konservativen backlash geben. Aber damals hätte es niemand für möglich gehalten, dass eines Tages ein ➱Verteidigungsminister erklären würde: Unsere Spur wird die Transformation der Truppe sein. Dafür stehen zwei Sätze. Erstens: Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt. Er ist akzeptiert, auch wenn mir zu wenig darüber diskutiert wird. Der zweite Satz lautet: Einsatzgebiet der Bundeswehr ist die ganze Welt. ... Grundsätzlich müssen deutsche Soldaten bereit sein, an Orten Verantwortung zu übernehmen, an die wir heute noch nicht denken. Das ist jetzt nicht von der ➱Uschi, die von Tabubrüchen redet, das war ein anderer. Zu der Uniform der Freiheitskriege - wie hier der schwarz gekleideten Lützower Jäger (die Napoleon verächtlich brigands noirs nannte) auf dem Bild von Georg Kersting - konnte man kaum zurückkehren. Zu der Uniform der Wehrmacht auch nicht, es musste etwas anderes sein. Und Grau ist eine Farbe, die man in Deutschland kennt.

Während sich die DDR Uniformen (Bild) an den Uniformen der Nazis orientierten, orientierte sich die Bundeswehr an der westdeutschen Spießigkeit. An der Bundeswehruniform, die ja die Bekleidung eines Bürgers in Uniform sein sollte, ist nicht viel zu retten. Es sei denn, sie hätte einen besseren Schnitt und eine bessere Qualität. Das wurde schon an den ersten Uniformen bemängelt, sie seien aus mäßigem Tuch – schmucklos und vom schlichten Schnitt – beinah armselig. Seit den Tagen von ➱Helmut Schmidt hat jeder Verteidigungsminister Besserung gelobt. Geändert hat sich nicht viel, die schlechte Qualität und der schlechte Schnitt sind geblieben. Es wurde nur alles etwas bunter. Mit Lametta.

Nur die Offiziere hatten bei uns bessere Uniformen, hellere Jacken und dunklere Hosen aus besserem Stoff. Allerdings nicht in den Anfangstagen, wie dieses Bild von Wolf Graf von Baudissin zeigt. Seine zweireihige Uniform, die noch keine farbigen Kragenspiegel besaß, sieht aus, als wäre sie aus einer grauen Wolldecke geschneidert. Dieser Uniformtyp war wenige Jahre später schon genauso out wie die Affenjacke. Dafür gab es das schwarze Koppel für den Dienstanzug wieder, das man bei den ersten Uniformen unbedingt hatte vermeiden wollte.

Klagen über die potthässliche Uniform gab es seit 1956. Soldaten fühlten sich wegen ihrer Uniform als Liftboys verspottet. Sätze wie Wir sehen aus wie Briefträger...damit kann man sich kaum auf die Straße wagen oder die Hosenböden hängen runter, als ob wir reingemacht hätten, waren noch das Netteste, was man in Briefen an das Verteidigungsminsterium las. Das passt zu der Aussage von Carlo Schmid, der 1954 im Verteidigungsausschuss bei der Vorführung der ersten Uniformentwürfe sagte: Das ist mir alles zu triste. Die Mädchen wollen doch auch was davon haben. Wenn man die Generalleutnants Heusinger und Speidel in ihren schiefergrauen Anzügen neben dem ersten Verteidigungsminister Theodor Blanck betrachtet, dann kann man das verstehen. Die Mannequins für die ersten Uniformentwürfe kamen übrigens alle - wie hinterher auch viele Soldaten der ersten Stunde - vom Bundesgrenzschutz.

Dass die Offiziere die schöneren Uniformen hatten, das war schon bei Friedrich II so. Dass sie Orden hatten auch. Dieser Herr ist der höchstdekorierte deutsche Soldat seit dem Zweiten Weltkrieg. ➱Audie Murphy, der höchstdekorierte amerikanische Soldat des Zweiten Weltkriegs, musste für seine Orden kämpfen. Klaus Naumann, der wie Harald Kujat im Schweinsgalopp durch die Generalsränge befördert wurde, eroberte sie am Schreibtisch. Wolf Graf Baudissin hat übrigens niemals so viele Sterne auf der Schulter gehabt wie Klaus Neumann. Und er hatte auch nicht so viele Orden.

Am Anfang war die Einfachheit. Die amerikanischen Diplomaten der jungen Republik trugen bis ins frühe 19. Jahrhundert keine Orden zu ihren dunkelblauen Fräcken. Später wollte man auch ein wenig Pomp haben und bekam eine Diplomatenuniform, die wie eine Marineuniform aussah. Bei der Bundeswehr wollte man auch etwas mehr Pomp. Und erfand den Abendanzug (zweiter von links in der Ausführung für Generäle) mit steigendem Revers und schrägen, pattenlosen Taschen. Und natürlich Fangschnur, worin sich die Tanzpartnerin verhedderte. Wahrscheinlich heißt die Fangschnur deshalb Fangschnur. Im Bundeswehrjargon hieß sie despektierlich Affenschaukel. Diese gewollt elegante Uniform war als Äquivalent für ➱Frack und ➱Smoking gedacht. Nicht zum Einsatz kamen damals allerdings diese ➱Modelle.

Was dies für eine Uniform ist, das weiß ich wirklich nich, ich habe sie nie gesehen. In den ➱Photoalben meiner Familie gibt es ähnliche Photos, aber die zeigen Luftwaffenoffiziere in Sommeruniform im Zweiten Weltkrieg. Dies ist auch eine Sommeruniform, aber als die eingeführt wurde, war ich nicht mehr bei der Bundeswehr. Den Herr hier kenne ich aber, der General Cord von Hobe war einmal mein Divisionskommandeur, ein hervorragender Mann. Er war der erste Bundeswehroffizier, der ein Nato Kommando bekam. Er hatte ein Ritterkreuz, aber er trägt keine Orden. Da unterscheidet er sich von Herrn Naumann.

Die Welt der Uniformen ist eine Welt der Eitelkeiten. Doch der Abendanzug der Bundeswehr kann nicht gegen den englischen Armee konkurrieren, wo man schon seit dem 19. Jahrhundert zu schwarzen Hosen mit roten Galons dieses kurze rote Jackett mit schwarzem Seidenrevers trug. Die amerikanischen Uniformen, die einmal wie die Kleidung der Diplomaten sehr schlicht waren, haben inzwischen eine beinahe unüberschaubare Vielfalt angenommen. Wobei die meisten neuen amerikanischen Uniformen ein wenig nach einer ➱Operettenarmee aussehen.

Uniformen können ein politisches Zeichen sein. Als ➱George Washington Präsident der Vereinigten Staaten wurde, hat er keine Uniform mehr getragen. Christian X soll während der deutschen Besatzung zu seinem morgendlichen Ausritt einen Judenstern an seiner Uniform getragen haben. Die Sache mit dem Ritt durch Kopenhagen stimmt, die Geschichte mit dem Judenstern ist aber wohl eine Legende. Aber es ist eine schöne Geschichte. Die Deutschen haben den symbolträchtigen Ausritt durch Kopenhagen durchaus verstanden und haben den König 1943 unter Hausarrest gestellt.

Neuerdings scheint es keine richtigen Uniformen mehr zu geben, ein braun-grünes Camouflage ist angesagt (die Bundeswehr Bezeichnung ist übrigens Flecktarn). Neuerdings heißen Soldaten in den Nachrichten immer Kämpfer, sie sind keine Soldaten einer Armee, die man benennen kann. Oder wenn doch, dann sind sie gerade auf Urlaub zufällig in der Ukraine. Früher gehörte zu einer Armee die Uniform, heute tragen alle diesen undefinierbaren Kampfanzug.

Zu dem die Bundeswehr jetzt, wie beinahe zu allen Uniformen, ein Barett trägt. Gab es zu meiner Zeit nicht, da gab es nur Helm, Schirmmütze und dieses schöne hellgraue Schiffchen mit den silbernen Litzen. Das ersetzte ab 1962 die sogenannte Gebirgsjägermütze, weil die jungen Soldaten das Schiffchen kleidsamer finden, wie das Verteidigungsministerium sagte. 1956 hatte man das nicht haben wollen, weil die Wehrmacht es auch getragen hatte. Mit dem neuen, von Lübke unterschriebenen Gesetz kommt ab 1962 viel zurück. Diese Herren im Flecktarn oben sind übrigens Engländer. Sie könnten auch von der Bundeswehr sein, die sehen jetzt alle gleich aus. Auch die numinosen Kämpfer. Die Idee vom universal soldier hat sich durchgesetzt.

Am wenigsten verändert hat sich die Uniform der englischen Generäle, was ➱Adrian Carton de Wiart hier trägt, könnte ein englischer General noch heute tragen. Allerdings sieht ➱David Julian Richards, der im letzten Jahr pensioniert wurde, eher wie ein Intellektueller aus und weniger wie der Haudegen Carton de Wiart. Richards ähnelt da eher dem ehemaligen Generalinspekteur der Bundeswehr Ulrich de Maizière, der nach dem Krieg Buchhändler war (lesen Sie ➱hier mehr dazu). Aber keine so schöne Uniform hatte wie die englischen Generäle. Schöne Uniformen haben die Engländer immer noch, da zeigt uns das Königshaus bei jeder Parade, wie man in einer Uniform eine bella figura macht.

Dieser Herr trägt eine Uniform, die er sich selbst entworfen hat. Und die ihm die Firma Turnbull & Asser geschneidert hat. Er war einmal zu Anfang des Jahrhunderts in der Armee und hatte eine richtige Uniform (sein höchster Dienstgrad war der eines Lieutenant Colonel), jetzt ist er Englands Premierminster. Und da hat er sich dies hier ausgedacht. Der berühmte boiler suit von Winston Churchill kommt auch in einer Episode von ➱Douglas Sutherlands Sutherland's War vor.

Winston Churchill ist in diesem Blog schon zweimal erwähnt worden. Einmal in dem Post, der ➱White Christmas heißt und zum zweiten Mal in dem Post ➱Winston Churchill. Wo ich die Totenfeier für ihn beschreibe, die ich im Januar 1964 als Gast der 11. Husaren (Prince Albert's Own) miterlebte. Mit all den bunten Uniformen. Vielleicht war damals unter den Offizieren auch dieser Mann, der als Leutnant bei den 11. Husaren seine militärische Karriere begann. Sie haben ihn natürlich (selbst mit den weinroten Hosen der cherry pickers) erkannt, es ist niemand anderer als ➱Prince Michael of Kent.

Bevor Douglas Sutherland die vielen wunderbaren Bücher geschrieben hat, die The English Gentleman im Titel haben, ist er im Zweiten Weltkrieg Soldat gewesen. Sogar ein hoch dekorierter Offizier. Sein Bericht über den Krieg liest sich aber ein wenig anders als die offizielle Geschichtsschreibung. Obwohl wahrscheinlich alles wahr ist, was er erzählt. Im Klappentext zu seinem Buch The English Gentleman's Wife findet sich folgende schöne Beschreibung des Autors: Douglas Sutherland not only lives in the coldest mini-castle in Scotland, but is a well known shot, salmon fisherman, and bon vivant. He has been a writer for the past twenty years, "Burgess and Maclean", and "The Yellow Earl", whom Edward the Seventh described as "almost an Emperor and not quite a gentleman". Debrett chose Douglas Sutherland to write "The English Gentleman" because he is the personification of all that phrase means. No gentleman is as well equipped to write "The English Gentleman's Wife", since women in general, and wives in particular have been an obsession with him since adolescence.

Als Sutherland die Uniform auszog, konnte er sartorial gesehen, auf eine neue Uniform zurückgreifen, die des englischen Gentlemans. Er hatte nämlich von seinem Freund Oscar Hammerstein zwei Anzüge aus der Savile Row geschenkt bekommen. Die er von seinem Schneider in Mayfair ändern ließ. Das war gegen den demob Anzügen, die die Armee ihren Soldaten spendierten - und die so kurz geschnitten waren, dass man sie bumfreezer taufte - ein großer Vorzug. Denn Sutherland wollte als Reporter für den Evening Standard (für den er das Londoner’s Diary schrieb). Für diese Kolumne hatte vor dem Krieg schon Berühmtheiten wie Harold Nicolson, ➱John Betjeman, Randolph Churchill, Malcolm Muggeridge und Peter Fleming (der Bruder von ➱Ian Fleming) geschrieben. Und wenn man im zerbombten London die Welt des Café de Paris wiederauferstehen lassen will, dann muss man natürlich Savile Row Anzüge tragen. Auch wenn sie Second Hand sind. Sutherlands Beiträge zu der Gesellschaftskolumne sind in Portrait of a Decade: London Life, 1945-55 gesammelt, eine wundervolle Lektüre.

Ebenso wundervoll wie das Buch Sutherland's War, das ich gerade gelesen habe. Was mich dazu bringt, eine kleine Geschichte zu erzählen, die ebenso komisch ist, wie die Geschichten von Sutherland. Uniformen kommen auch drin vor. Am Ende dieser Straße war früher das normale Leben zu Ende, das da hinten war meine Kaserne. In einer Gegend, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen.

Hier verändert sich nicht viel, mein Panzergrenadierbataillon gibt es allerdings nicht mehr. Aber das Gebäude der Wache rechts sah vor einem halben Jahrhundert genau so aus. In dem Haus links war früher ein Friseur, der stilistisch nur einen Schnitt beherrschte. Das, was die englische Armee short back and sides nennt. Auf der Suche nach diesem Bild habe ich Bilder gefunden, auf denen mein alter Pastor Klaus Nebelung (den ich letztens in dem Post ➱Gräber erwähnte) bei einem ➱Gedenkgottesdienst für die Gefallenen des Infanterieregiments 65 zu sehen ist. Wie klein doch die Welt ist. Also meine Geschichte, die so komisch sie ist, leider doch in allen Teilen wahr ist, spielt genau hier. Ein halbes Jahrhundert zurück, als wir noch immer einen mehr oder weniger Kalten Krieg haben. Die Wachsoldaten haben scharfe Munition, und einen Kilometer von diesem Wachgebäude entfernt stehen Nike Hercules Raketen in ihrer ➱Abschussbasis. Die Atomsprengköpfe für die Honest John, die wir routinemäßig zusammen mit den Amerikanern in ➱Dünsen bewachen, will ich gar nicht erwähnen. Und natürlich tragen wir noch richtige Uniformen. Und haben kein Barett auf dem Kopf.

Ich bekomme eines Nachts, als es mich wieder einmal mit dem Wochenenddienst als Offizier vom Dienst erwischt hat, einen verschlüsselten Befehl der höchsten Dringlichkeits- und Geheimhaltungsstufe. Vom Korps, nicht von der Brigade oder der Division. Den darf nur der Kommandeur lesen, nachdem er vorher in der Maschine entschlüsselt wurde. Für die Maschine hat nur der Oberleutnant Frank S. einen Schlüssel, der ist aber mit seiner Hockeymannschaft an diesem Wochenende irgendwo bei Verden unterwegs. In den nächsten fünf Minuten rufen alle Offiziere vom Dienst aus allen Standorten der Brigade im Oldenburger Land an, die jetzt alle das gleiche Problem haben. Ob ich mal ihren Kommandeur ans Telephon holen könne.

Die Kommandeure feiern heute mit den Unteroffizieren der Brigade, das tun sie einmal im Jahr. Es ist viertel vor zwölf, da ist keiner mehr nüchtern. Ich setze meinen Helm auf und marschiere zur Unteroffiziersmesse. Nein, hier ist keiner mehr nüchtern, hier ist auch keiner mehr nach der zentralen Dienstvorschrift 37/10 gekleidet. Offensichtlich sind das Panzerlied Ob’s stürmt oder schneit und das Lied vom allerschönsten Kind, das man in Polen find (also diese ganzen Wehrmachtsklassiker, die eines Tages das Albino mit der Sonnenbrille singen wird) schon gesungen worden. Der Stabsunteroffizier M. von der dritten Kompanie hat gerade seinen Starauftritt mit Kameraden, wir haben die Welt gesehn, Paris und das heilige Rom, in dem der König Menelik hoch zu Krokodil und Willem im Exil vorkommen. Hat mit dem Originaltext des Chansons von ➱Walter Mehring nicht mehr viel zu tun, gilt aber als die Hymne der Unteroffiziere (als ich Fahnenjunker wurde, musste ich sie auch lernen). Wenn er zu der Stelle mit ein Mädchen von St. Pauli, eine Nutte von der Reeperbahn kommt, heulen alle mit. Ob ich jetzt Ruhe im Saal kriegen würde, wenn ich mit der P-38 in die Decke ballere? Frank hat das mal bei einer Kneipenschlägerei in Delmenhorst mit Erfolg gemacht. 

Ich versuche zuerst meinem Kommandeur, dann allen anderen Bataillonskommandeuren, mitzuteilen, dass wir hier einen Befehl der höchsten Dringlichkeitsstufe haben. Die Kommandeure versuchen, mich zu einem Glas Bier zu überreden. Es hat keinen Sinn. Vielleicht ist jetzt Krieg, und wir wissen es nicht, weil alle Kommandeure blau sind und niemand diesen bescheuerten Befehl entziffern kann. Ich verlasse die Feier. Die kalte Nachtluft draußen tut gut. Meine beiden Unteroffiziere im Wachgebäude haben inzwischen jeden Offizier des Bataillons aus dem Schlaf geklingelt, einer ist zur Luftwaffenkaserne auf der anderen Seite des Ortes, um zu fragen, ob deren Entschlüssellungsgerät funktionieren könnte. Um null Uhr siebzehn kommt ein Anruf, ein OvD hat den Code entschlüsselt, er gibt den Befehl jetzt im Klartext durch. Das ist ja auch der Sinn von streng geheimen Befehlen. Ich gehe mit dem Text wieder in die Unteroffiziersmesse. M. ist immer noch auf der Bühne, er singt das Lied zum dritten Mal, aber er trägt jetzt Strapse und Netzstrümpfe zur Uniformjacke. Ich teile allen Kommandeuren einzeln den Inhalt des Befehls mit. Es war kein Krieg. 

Als ich zur Wache zurückkomme, herrscht da Verwirrung am Schlagbaum. Der Wachhabende hat einen Mann in der Uniform eines DDR Majors in einem VW Käfer entdeckt und weiß jetzt nicht, was er tun soll. Das ist natürlich wieder so ein Spinner von der Fernspähkompanie. Die sind das geheimste, was die Bundeswehr hat, jeder von denen besitzt alle Uniformen des Ostblocks. Sie bilden sich ein, dass sie außerhalb des Gesetzes stehen. Manchmal machen sie sich einen Spaß und versuchen, in einer Ostblockuniform durch die Wache zu kommen. Oder zeigen einen gefälschten Dienstausweis mit eingeklebtem Dackelphoto vor. Erzählen dann, dass sie nur die Aufmerksamkeit der Wache testen wollten oder das alles nur ein Spaß sei. Nehmen Sie den Herrn Major der Volksarmee fest und führen Sie ihn in eine Zelle, sage ich zum Wachhabenden. Herr Leutnant, das können Sie nicht machen, protestiert der falsche Major, Ich bin Feldwebel in der Fernspähkompanie, ich wollte mir nur einen Spaß machen. Spaß wirst Du noch haben, denke ich mir und wiederhole ungerührt: Nehmen Sie den Herrn Major fest, führen Sie ihn in eine Zelle und rufen Sie dann die Feldjäger in Oldenburg an. Wir hätten hier einen DDR Spion. Wenn irgendjemand die Komiker von der Fernspähkompanie nicht ausstehen kann, dann sind das die Feldjäger in Oldenburg.

Glanz und Elend des Militärs. Alle diese Leute, die das Militär verherrlichen, Opa inklusive, haben die niemals diesen Unsinn und diese Absurdität des Ganzen gesehen? Die Literatur zum Krieg hat Krieg und FriedenIn Stahlgewittern und Im Westen nichts Neues hervorgebracht. Aber auch Der brave Soldat SchwejkSutherland's War und ➱Catch-22. Ich glaube, dass die Wirklichkeit so ist wie Catch-22.


Freitag, 5. September 2014

Photoalbum


Heute vor hundert Jahren hat die Schlacht an der Marne, östlich von Paris, begonnen. In dieser Schlacht ist mein Großvater nicht gewesen. Aber er hat mir davon erzählt. Er hat mir seinen ganzen Krieg erzählt. Über den anderen Krieg, der erst wenige Jahre vorbei war, redete niemand. Seine Spuren konnte man überall sehen. Opas Krieg hatte französische Namen. Ich war sechs und bemühte mich, die vielen fremden Namen zu behalten und richtig auszusprechen. Kemmelberg war ein Name, den ich leicht behalten konnte. St Eloi Estaminet geht mir schwer von der Zunge. In Opas Buch mit den vielen Schlachten und Generälen sahen alle Schlachten auf den gelbbraunen Bildern gleich aus. Opa war nicht mehr jung, als er 1914 in den Krieg zog, da war er schon einunddreißig. Manchmal legte Opa sein Buch zur Seite und holte ein Photoalbum aus dem Schrank.

Das Photoalbum habe ich immer noch. Wenn man in meinem Heimatort ein Photo von einer feierlichen Gelegenheit brauchte, dann ging man zu dem Photographen Erich Maack. Der auch Industrieaufnahmen machte und alle Schiffe photographierte, die der Bremer Vulkan baute. Natürlich alles in Schwarzweiß, mit viel Gelbfilter, sodass die weißen Wolken im Himmel richtig plastisch wurden. Manchmal dachte ich, dass die Industrieaufnahmen von Erich Maack (für dessen ➱Tochter ich mal schwärmte, als ich sieben war) lebendiger waren als seine Portraits.

Solch steife Portraits und Gruppenaufnahmen, wie Erich Maack sie machte, zieren auch die Photoalben, in denen hundert Jahre Familiengeschichte dokumentiert ist. Die Aufnahmen, zum Teil auf steifem Karton, manche mit eingeprägtem Namen des Photographen, haben sich in der Dunkelheit des Photoalbums erstaunlich gut gehalten. Das älteste Bild, Mammis Urgroßmutter aus Epe (was heute Bramsche ist), ist irgendwann einmal von einer Daguerretypie umkopiert worden. Die Verwandtschaft mütterlicherseits ist bis zum Jahre 1900 zurück ziemlich vollständig. Vatis Vorfahren sind unterrepräsentiert, was wohl daran liegt, dass diese Photoalben mit dem Haus in Bremen abgebrannt sind.

Oma Johanna mit ihren schönen Schwestern und deren Männern ist auf vielen Bildern. Die Damen elegant, selbstbewusst, eine nachdenklich. Oma und Tante Margret etwas träumerisch. Die Herren bürgerlich gesetzt, mit Stehkragen und Uhrenkette über der Weste. Dann der erste in Uniform. Mit Pickelhaube, Mantel und Säbel. Und dem Schnurrbart vom Typ es ist erreicht, er könnte für einen Doppelgänger vom Kaiser durchgehen (die Photographie wurde von einem M. Hoffmann in Oldenburg, Heiligengeiststraße 2 gemacht). Vom Kaiser ist auch ein Photo auf diesen Seiten, eine Postkarte Das Kaiserpaar mit seinen Enkelkindern mit der Adresse eines Berliner Hof-Photographen. Der Kaiser trägt natürlich Uniform, und das tun alle abgebildeten Herren auf den nächsten Seiten auch. Es ist Krieg. 

Gleich das erste Photo zeigt Opa und Oma mit dem kleinen Gustav (natürlich im Matrosenanzug), Opa hält seinen Offizierssäbel in der linken Hand, im Knopfloch ist das schwarzweißrote Band vom Eisernen Kreuz. Er guckt etwas griesgrämig, während Oma wirklich nett lächelt. Es sind viele Feldpostkarten in diesem Album. Eine aus dem Mai 1915 von einem jugendlichen Familienmitglied, das zu Hause Krieg spielt. Mit Stehkragen, Norfolkjackett und Knickerbockern, einer Feldmütze, Koppel und der hölzernen Attrappe eines Gewehrs. Die Karte ist an Herrn Heinrich Lemke z.Z. Flandern gerichtet: 

Lieber Heinrich! Zunächst meinen herzl. Glückwunsch zum „Ritter des eisernen Kreuzes“!! Es ist sehr schön, dass Du es hast. Schreib mir doch mal wie Du es bekommen hast. Hier ist alles wohl. Erich + Karl sind wieder in Frankreich in einer grossen Schlacht; Gott beschütze Euch alle. Nun schreib mir bitte bald wieder. Herzl. Grüsse von Deinem Heinz!

Wenig später ist Heinz auch in der grauen Uniform des Heeres, seine Uniform sieht auf dem Photo aus wie eine Wolldecke. Man sieht, dass der Krieg zu Ende geht, die haben kein Geld mehr für richtige Uniformen. Aber Heinz hat den Weltkrieg wie Heinrich, Erich und Karl lebend überstanden. Von Karl kommt 1916 eine Karte aus Cassel [sic] aus einem Lazarett an Oma Johanna. Die sechs Offiziere auf dem Bild in der ersten Reihe dürfen sitzen, zwei Schwerverletzte auch. Der Rest, Mannschaften, Unteroffiziere und Krankenschwestern, stehen. Eine Krankenschwester sitzt in der Bildmitte neben einem Offizier, der sich ganz weltmännisch lässig gibt. Ich habe das unbestimmte Gefühl, dass das Karl ist.

Die Photos von 1915 aus Flandern und 1916 aus der Etappe bei Boulogne zeigen Opa im Kreis seiner Offizierskameraden, und der Text ist lapidar stereotyp. Erst kommt meine geliebte Johanna, dann einen Aufzählung der Herren Leutnants, die mit auf dem Bild sind. Sonst nichts. Also, mit dem Briefwechsel des Bremer Arbeiterehepaars ➱Pöhland kann das nicht mithalten. Wahrscheinlich hat es noch Briefe gegeben, aber davon ist leider nichts erhalten. Ab 1916 trägt Opa auf den Photos einen Stoffbezug über der Pickelhaube, es gibt Photos von Unterständen, von zerstörten Städten. Dann überraschenderweise Photos von einem Russen mit Pelzmütze und folkloristischer Tracht. Da ist Opa in Galizien. Da hat ihm der Kaiser die Hand geschüttelt. Wie oft hat er mir das erzählt! Das ist jetzt die gleiche Front gegen die Russen, an die Joseph Roth seinen Leutnant Trotta versetzt und sterben lässt. Der Hauptmann Lemke aber kehrt wohlbehalten nach Bremen zurück.

Er mag die Uniform aber noch nicht ausziehen. Zwar gibt es jetzt Photos von ihm im grauen Westenanzug im Kreis des Lehrerkollegiums, einmal auch von einem Ausflug mit dem Schreiberdampfer (Gustav und Tante Tilla sind auch mit drauf), aber die meisten Bilder zeigen ihn in der Uniform des Stahlhelms. Militärische Paraden, Aufmärsche, Stahlhelmertreffen auf der Schneekoppe, Stahlhelmertreffen auf dem Kyffhäuser. Dann ein Photo von Opa mit einem Mann in SA Uniform mit einem furchtbar ordinären Gesicht, das ist der neue Ortsgruppenleiter Westphal. Und da zieht Opa seine Uniform aus, mit denen aus der SA will er doch nicht auf einem Photo sein. 

Es gibt wenige Photos, die Opa entspannt zeigen. Selbst auf denen, die ich Jahrzehnte später von ihm mache, ist er immer ernst. Dabei konnte er ja trotz seines westfälischen Dickschädels durchaus witzig sein. Auf einem großen Photo trägt er sogar ein Papierhütchen, da ist er bei einer Feier seiner geliebten ➱Schlaraffia, die den Wahlspruch in arte voluptas hat. Die haben ein Haus in der Breiten Straße, aber hier tagen sie im Theatersaal in der Gerhard Rohlfs Straße (seit den zwanziger Jahren gibt es da, wo vorher die Tonhallen waren, ein Stadttheater). Später wird da das Kino sein, und wenn das pleite ist, entsteht da das Niedrigpreis Warenhaus Kepa, das erheblich zur Verschandelung Vegesacks beigetragen hat. Das Photo muss vor 1933 gemacht worden sein, denn der Bürgermeister Dr. ➱Wittgenstein ist da noch darauf (mit Smoking und diesem seltsamen Papierhut). Den haben die Nazis gleich nach der Machtübernahme aus dem Ort gejagt. Und die Schlaraffia war auch kurz danach verboten. An dieser Stelle endet das Photoalbum, auf das meine Mutter Alte Bilder 1900 bis 1936 geschrieben hat.

Es gibt natürlich noch andere Alben, meine Mutter ist eine begeisterte Photographin gewesen. Mein Vater interessiert sich dagegen überhaupt nicht für die Hobbyphotographie. Wo muss ich drauf drücken? ist immer seine Frage, wenn man ihm eine Kamera in die Hand drückte. Aber die Alben, die jetzt nach 1936 kommen, zeigen wieder beinahe nur Uniformen. Hochzeiten im Krieg, in Uniform mit Paradeschwert, völlig albern. Zeigen mich als Kleinkind, meine Cousine Hannelore (von der ich auch viele Photos aus dieser Zeit bekommen habe) als etwas größeres Kleinkind. Viel aus Bohmte und ➱Bad Essen, wohin sich die Familie geflüchtet hat. Das zerstörte Bremen hat niemand aus der Familie photographiert. Irgendwie liegt die Wirklichkeit hinter den Photos, und das Gedächtnis speichert viel mehr Bilder ab, als ein Kleinbildfilm mit 36 Aufnahmen das kann.

1977 hat Sebastian Haffner zusammen mit dem Regisseur Franz-Peter Wirth den Film Generale – Anatomie der Marneschlacht gedreht. Ohne Kampfszenen, die Schlacht allein aus der Sicht der Generäle. Es ist ein Film, der zeigt, wozu das Fernsehen fähig wäre, wenn es nur wollte. Sie können den Film hier in zwei Teilen sehen (➱Teil 1, ➱Teil 2), es lohnt sich, das anzuklicken.

Donnerstag, 4. September 2014

Tannenberg


Heute (2. September 2014) vor hundert Jahren war sie zu Ende, die Schlacht von Tannenberg. Paul von Hindenburg war noch während der Schlacht zum Generaloberst befördert worden, am 2. September 1914 erhielt er den Orden Pour le Mérite. Er war kurz vor der Schlacht mit dem Zug aus Hannover gekommen und hatte die 8. Armee übernommen. Später erzählte er gerne, dass er während der ganzen Schlacht gut geschlafen haben. Seine Verdienste bei dem Sieg gegen die Russen waren klein, der Mythos gewaltig, der sich jetzt aufbaute (und aufgebaut wurde). Der General Max Hoffmann (auf dem Photo rechts von Hindenburg), der der eigentliche Stratege bei dieser Schlacht war, urteilte später über Hindenburg: Der Kerl ist ein zu trauriger Genosse, dieser große Feldherr und Abgott des Volkes ... Mit so wenig eigener geistiger und körperlicher Anstrengung ist noch nie ein Mann berühmt geworden. Doch wer erinnert sich an Max Hoffmann?

Paul von Hindenburg kannte nach der Schlacht jeder. Die Schlacht von Tannenberg fand übrigens gar nicht bei Tannenberg statt, die Namensgebung war ein geschickter propagandistischer Schachzug von Hindenburg, hatte hier doch fünfhundert Jahre zuvor das Heer des Deutschen Ordens gegen den König von Polen verloren. Genugtuung nach fünfhundert Jahren, das konnte man propagandistisch verkaufen.

In dieser Schicksalsstunde war auch die Feder der deutschen Dichter gefragt. Eine gewisse Agnes Miegel, die in den fünfziger Jahren noch ein gewisses Ansehen in der bürgerlichen deutschen Gesellschaft genoß (lag es daran, dass sie Hitler vergöttert hatte?), und deren Gedichte noch in Lesebüchern zu finden waren, dichtete damals:

Im Morgengrauen, dicht bei dicht, 
Vor dem Anschlag an der Mauerwand 
Alt und jung beieinander stand. 
Sie lasen murmelnd im ersten Licht 
Wort für Wort, wieder und wieder, 
Und den Namen darunter.
Keiner hat ihn gekannt.
„Hindenburg“!
Sie sprachen ihn laut einander vor. 
„Wer ist er? Woher?
Welke Hand hob kleine weiche Hand empor 
Daß sie ihn nachzog. 
Greises Haupt beugte sich nieder 
Ließ rosigen Mund ihn stammeln. Sprach:
„Das ist Er,
Der Verheißne, der Greis aus dem Berg Vergessenheit,
Den unsere Not gerufen. 
Er kam. Er hat uns befreit.
Vergiß ihn nie!“
Nie!
Und ein verstörtes, zerquältes Land 
Griff aufatmend nach seiner mächtigen Hand 
Und lehnte sich wie ein Kind an seine Knie!

Wenige Tage nach dem Sieg über Rußland wird an der Westfront die Marneschlacht beginnen.

Gräber


Am 1. September 1939 hat der Zweite Weltkrieg begonnen. Ich bin noch in diesem Krieg geboren worden, meine Kindheit war die Nachkriegszeit. Damals konnte sich niemand vorstellen, dass es jemals wieder Krieg geben würde. Man hatte in den Familien zu viele Tote zu beklagen. Sie liegen verstreut über Europa. Der Jugendfreund meiner Mutter vor Rotterdam, der Hauptmann der Reserve Georg K. bei Tscherkassy am Dnjepr (gefallen, vierzehn Tage nachdem er das Ritterkreuz bekommen hatte), Vatis Bruder irgendwo in Rußland. Der Bruder von WF, der dem Druck der Nazis nicht standhalten konnte und Selbstmord beging, liegt auf dem Friedhof von Lyon.

Mein Vater hoffte noch Jahre nach dem Krieg, dass es ein Lebenszeichen von seinem jüngeren Bruder geben könnte. In jeder Erfassungsstelle des Roten Kreuzes in Norddeutschland haben wir in endlosen Schlangen gewartet. Meistens waren diese Einrichtungen in den Kellern von öffentlichen Gebäuden untergebracht, klaustrophobisch eng und übel riechend. Aber die Generation, die jetzt verzweifelt nach Auskunft fragte, war das Bunkergefühl gewohnt. Nur ich musste da einmal nach einer Stunde raus, nach draußen an die frische Luft. Dass auch ich wichtige Teile meiner ersten Lebensjahre in Bunkern verbracht hatte, hatten mir alle erzählt, aber stundenlang in einer Schlange in einem muffigen Keller zu stehen, ist nichts für Sechsjährige.

Dabei war ich Schlangestehen gewohnt, für alles musste man anstehen: Schulspeisung, Reihenuntersuchungen, Röntgen, Impfungen. Es wird gegen alles geimpft, es gibt noch Krankheiten, die heute so gut wie ausgestorben sind. Und es gibt wenig Medikamente. Wenn wir im Turnzeug stundenlang in den zugigen Gängen des Gesundheitsamts frieren und nicht wissen, wann wir dran kommen, dann wird uns diese Prozedur auch von keinem pädagogisch geschulten Arzt erklärt. Heute würden die Kiddies heulen. Wir heulen nicht. Wir sind auch nicht fett, keiner von uns. Wir sind unterernährt, haben Mangelkrankheiten (trotz des grauenhaften täglichen Lebertrans) und sind jetzt schon leicht blaugefroren. Aber wir tanzen nicht aus der Reihe.

Zwanzig Jahre nach Kriegsbeginn war ich mit der Evangelischen Jugend meines Heimatortes in Nordfrankreich, wir arbeiteten freiwillig für den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Versöhnung über Gräbern ist die Devise. Konrad Adenauer zitiert die Worte in der Wochenschau (und vielleicht auch im Fernsehen, aber das hatten wir glücklicherweise noch nicht). Unsere Gruppe hat Adenauer ein Jahr später getroffen, in Chartres vor der Kathedrale. Der Bundeskanzler hatte, nachdem er beim Verlassen der Kathedrale mit einigen Mädchen aus der Gruppe ins Gespräch gekommen war, der völlig verdutzten Waltraut Nebelung, der Ehefrau unseres Diakons, einen Hundertmarkschein in die Hand gedrückt. Sie kam vor lauter Überraschung gar nicht dazu, sich zu bedanken, aber das hat sie später schriftlich nachgeholt.

Es ist ein heißer Juli in Ailly-sur-Somme bei Amiens (und wahrscheinlich in ganz Frankreich), der deutsche Soldatenfriedhof besteht nur aus wild wucherndem Unterholz, die einzelnen Gräber sind kaum zu erkennen. Hier ist seit Kriegsende kaum etwas gemacht worden. Einen Kilometer weiter kann man den englischen Soldatenfriedhof finden: glatter, sattgrüner Rasen und darauf die weißen Steinkreuze, die England seinen Soldaten überall auf der Welt spendiert. Die wahr gewordene Bitte von Rupert Brooke: that there’s some corner in a foreign field that is forever England... In gewissem Sinne ist dies hier England, wie ➱John Keegan in The Face of Battle sagt. Die Schlachtfelder, auf denen Englands Geschichte entschieden wird, sind keine hundert Kilometer von einander entfernt: Agincourt, Waterloo und die Somme. Zwanzigtausend Engländer werden am ersten Tag der Sommeschlacht sterben, über 400.000 werden am Ende dieser Schlacht verwundet oder tot sein. Auf deutscher Seite ebenso viel.

Im Zweiten Weltkrieg wird es hier nicht anders sein, nur kommt jetzt der Tod aus der Luft. Und er kommt nicht von den Deutschen. Die Stadt Amiens wird im Kriege zu sechzig Prozent zerstört. Es grenzt an ein Wunder, dass die Kathedrale unversehrt bleibt. In der Mitte von Amiens steht in einem kleinen Park in der Sichtweite des Tour Perret (der höher als die Kathedrale ist) ein modernes steinernes Denkmal, die Figur eines Soldaten tritt im oberen Drittel aus der dreieckigen Steinsäule heraus, am Fuße das Lothringerkreuz. Das weiß ich, weil ich dieses alte Schwarzweiß Photo habe. Es hat wochenlang neben meinem Mac Computer gelegen, den mir mein Uniinstitut zum Abschied geschenkt hat. Ich konnte es nicht mehr identifizieren. Es hat mir etwas bedeutet, und es muss etwas bedeuten, sonst hätte ich es damals nicht photographiert, aber jetzt weiß ich es nicht mehr. So ist es mit den Gräbern und Gedenksteinen.

Mein alter Diakon ➱Klaus Nebelung, inzwischen Pastor im Ruhestand, bringt mich nach fünfzig Jahren auf die richtige Spur. Es ist das Denkmal für General Leclerc und die Armee des Freien Frankreichs. Der französische Edelmann, der seinen Resistancenamen angenommen hat, kommt aus der Gegend von Amiens. Aber die Informationen über dieses Denkmal sind verborgen im Internet, unter der Farbabbildung des Denkmals finden sich Kommentare wie: Wer war das? Was soll das? Was hat er mit dem Supermarkt Leclerc zu tun? Schön photographiert! Der war ein Held, wieso? Die Intelligenz dieser französischen Kommentatoren ist, wie so vieles im Internet, von unterirdischer Qualität. Vielleicht sollte man nach dem Vorbild der bad banks mal den ganzen Müll in ein bad internet verbannen. 

Wir gucken uns den englischen Friedhof an, wir gucken uns unseren an. Wir wissen jetzt, was wir zu tun haben. Die pastorale Eleganz der Engländer werden wir nicht erreichen, das ist uns klar. Aber wir können uns bemühen, diesen Friedhof wieder wie einen Friedhof aussehen zu lassen. Wir sind in der Turnhalle der Schule untergebracht, Feldbetten, spartanische Ausstattung. Der Postbote des Dorfes begrüßt uns mit einem Ständchen auf der Tuba. Wir haben auch eine Postadresse: Ailly-sur-Somme (Amiens), La Mairie, Groupe des jeunes Allemands de Brême.

Frühstück gibt es hier im Saal, mittags gibt es ein Lunchpaket. Abends richtiges Essen im Gasthof. Wir müssen den Vormittag arbeiten, Nachmittag und Abend haben wir frei. Wenn man Frühstücksdienst hat, muss man morgens um sechs einen halben Kilometer zum nächsten Bauern marschieren, um Butter zu holen. Muss Bonjour, Monsieur sagen und mit ihm im Garten in einen Keller steigen. Drei Meter unter der Erde ist es ungeheuer kalt und feucht, auch wenn draußen dreißig Grad sind. Die Butter ist immer frisch. Diese Kenntnis von französischen Gartenkellern zahlt sich Jahre später in meinem Kunstgeschichtsstudium aus, als außer mir niemand die Frage von Professor Tintelnot im Colloquium beantworten kann, wie man denn in Versailles im 17. Jahrhundert den Sekt kalt gehalten hätte. 

Meine Freundin Renate schreibt ihre Briefe jetzt auf Französisch, was für einen Schüler des Lateinzweiges schwer zu lesen ist. Je t’aime beaucoup, und ich weiß nicht, was beaucoup heißt. Jochen S. ist zwar auf dem Französischzweig des Gymnasiums, aber den mag ich nicht fragen. Nur einer von uns kann richtig Französisch, das ist der Gemeindehelfer Schark aus der Lesumer Nachbargemeinde. Der war im Zweiten Weltkrieg Feldwebel in Frankreich, hier in der Picardie. Er mag die Franzosen, die Franzosen mögen ihn. Und uns. Die haben hier sowieso nichts gegen die Deutschen, die hassen nur die Amerikaner. An jeder kahlen Mauerwand, an der mal keine Dubonnet Reklame klebt, steht: Ami go home! In der Nacht vor der Feier des Kriegsendes wird jedes Jahr die amerikanische Flagge aus dem Mittelschiff der Kathedrale von Amiens gestohlen und vor der Kirche verbrannt. Die Amerikaner haben bei der Invasion sinnlos jedes kleine Dorf, in dem sie deutschen Widerstand vermuteten, plattgewalzt. Amiens ist zu mehr als der Hälfte zerstört worden. Das verzeihen ihnen die Franzosen nie. Auf jeden Fall 1959 noch nicht. 

Sonntags fahren wir mit unserem Bus zum Gottesdienst in der einzigen evangelischen Kirche in Amiens. Die ist in einer umgebauten Autowerkstatt und riecht immer noch so. Irgendwie wäre mir jetzt der Weihrauchgeruch der Kathedrale lieber. In dieser Großartigkeit von farbigem Glas und Steinmassen kann man das Gefühl haben, dass man Gott nahe ist, in der Autowerkstatt nicht. Aber Gott ist überall, daran müssen wir glauben. Der Ort Ailly-sur-Somme hat nur einen Arbeitgeber, die Schotten, wie sie sagen. Die sind zwar schon seit hundert Jahren hier, aber sie sind immer noch die Schotten. James Drummond Carmichael aus Dundee hat hier im 19. Jahrhundert eine Jutefabrik gegründet. Seine Nachfahren haben eine Villa oben auf der Geestkante, mit Park und verfallendem Tennisplatz, auf dem die Netze verrotten. Die Fabrik ist unten in der Tiefebene, wo die Somme mit ihren Nebenarmen durch die Wiesen mäandert. Die Arbeiter sind alle Kommunisten und hassen die Schotten. Wenn Opa das noch erlebt hätte, sein Enkel in einem Dorf voll von Roten.

Man kann am Nachmittag die sieben Kilometer nach Amiens gehen, in der Kathedrale ist es schön kühl. Hier ist der Heilige Martin getauft worden, hier hat er seinen Mantel zerschnitten und einem Bettler gegeben. Man kann auf den Turm der Kathedrale klettern und zusammen mit den gotischen Wasserspeiern über die halbe Picardie gucken. Das ist im Sommer ein wunderbarer Anblick. Aber das Schönste ist es, in Ailly die hundert Meter zum Bahnhof zu gehen. Einmal über die Gleise, wo 1906  ein Schnellzug entgleist ist (das bekommt man als erstes erzählt), und schon ist man an der Somme. Der Fluss fließt schnell genug, dass man sich auf ihm treiben lassen kann. Zugegeben, von Zeit zu Zeit begegnet man einem toten Hund, der im Wasser treibt, das ist nicht so schön. Aber wenn man auf dem Rücken liegend den Himmel zwischen den Bäumen sehen und dabei sanft durch das Wasser gleiten kann, das ist wundervoll. Weniger schön ist der Rückweg, weil man barfuß den Treidelweg am Ufer zurückgehen muss. 

Wir spielen auch Fußball gegen die Dorfjugend, die haben einen richtigen Platz, weil Ailly seit 1899 einen Fußballverein hat. Sie schicken sogar einen richtigen Schiedsrichter, der seine Sache ernst nimmt. Manchmal muss der das Spiel unterbrechen und Leute vom Platz stellen. In ihrem Enthusiasmus haben die Franzosen plötzlich 17 Spieler auf dem Platz. Wir gewinnen natürlich. Seit ➱Bern 1954 haben selbst deutsche Straßenfußballer das Gefühl, dass sie unbesiegbar sind. Das wird einige Jahre später anders aussehen, wenn wir für den Volksbund Gräber der angeschwemmten Opfer der Skagerakschlacht im Norden Jütlands in Ordnung bringen.

Das gepflegte Waldstadion von Nyköbing hätte uns schon zu denken geben sollen. Wir verlieren 9:1. Das eine Tor schießen wir auch nur, weil der dänische Torwart sich an den Spielfeldrand gesetzt hat, um mit unseren Mädels zu flirten. Wir wissen nicht, dass Dreiviertel der Dänen in der dänischen Schülerauswahl spielt. Es ist der schlimmste Tag in meiner Torwartkarriere. Es hilft uns nicht, dass wir Charlie Kottkamp in unseren Reihen haben, der beim SAV spielt (und eines Tages ein großes Tier in der Sportredaktion der ARD wird). Aber selbst wenn wir ➱Dragomir Ilic gehabt hätten, hätte es wohl nicht viel ausgemacht. Die Geschichte wird sogar den Bremer Nachrichten eine kurze Notiz wert sein.

Das Abendessen im Gasthof von Ailly ist der Höhepunkt jeden Tages. Schon Laurence Sterne hat in Sentimental Journey über Amiens gesagt, dass er hier the best dinner we ever ate in France gehabt hätte. Dass es eine Vielzahl von Gängen gibt, sind wir nicht gewohnt. Am ersten Tag gibt es Fleisch mit seltsam aussehenden, aber sehr leckeren Wurzeln und fromage. Am vierten Juli gibt es pommes frites und beefsteak (das steht so in meinem Tagebuch), noch niemand von uns hat je Pommes Frites gegessen. Wasser und vin du pays stehen auf den Papiertischdecken, die Franzosen kümmert es nicht, dass wir erst sechzehn sind. Mit sechzehn ist man damals ja schon beinahe erwachsen. Wir können uns auch unsere eigenen Flaschen holen, die wir uns am Anfang ausgesucht haben, und die der Wirt für uns in einem Regal über der Theke aufbewahrt. Meine Flasche ist grün, ich habe sie wegen der schönen Farbe gewählt. Es ist ein Grenadine Minz Sirup, den man mit viel Wasser verdünnt.

Unsere Arbeit kommt voran. Wir haben hölzerne Kreuze mitgebracht, die die Zimmerleute der Friedrich Lürssen Werft in unserem Heimatort angefertigt haben. Aber wir haben keine Nägel, um die manchmal noch vorhandenen Namensschilder auf die Kreuze zu nageln. Ich werde mit einem Freund nach Amiens geschickt, um Nägel zu kaufen. Der Bus ist voll, er hat den Motor innen, die Motorabdeckung ist heiß. An einen Sitzplatz ist nicht zu denken, da sitzt die halbe Landbevölkerung der Picardie, Körbe und Käfige auf den Knien. Der Bus ist auch voll mit den Geräuschen von Hühnern und Gänsen. In Amiens ist Markttag.

An den Straßenrändern sitzen alte Männer mit Kofferradios in der Sonne und hören der Berichterstattung der Tour de France zu. Die Tour wird hier nie vorbeikommen, aber sie tun so, als käme das Peloton jeden Moment um die Ecke geschossen. Männer auf den Straßen pfeifen eine ins Ohr gehende Melodie, die wir schnell nachpfeifen. Ich werde Jahre brauchen, um herauszufinden, dass es John Philip Sousas Stars and Stripes forever ist. Das einzige, das sie von ihren Befreiern übernommen haben. Wir finden einen Haushaltswarenladen, mit Zeichensprache und Küchenfranzösisch machen wir dem Besitzer unser Anliegen klar. Er spricht ein wenig Deutsch aus der Besatzungszeit, er stellt uns seine Familie vor, wir müssen einen Pernod trinken. Wir trinken das Zeug sicherheitshalber mit ganz viel Wasser, wegen der Hitze. Wir bekommen ein ganzes Sortiment Nägel, unentgeltlich, und der Patron besteht darauf, uns mit seinem Renault camion nach Ailly zurückzufahren. Wahrscheinlich leisten wir in diesem Sommer mehr für die Völkerverständigung als der deutsche Außenminister.

Wir werden auch die vereinzelten Gräber im Umkreis von zwanzig Kilometer pflegen. Das bedeutet lange Märsche in der sengenden Hitze. Die angerosteten Stahlhelme auf den Gräbern sind glühend heiß. All diese Geschichten, dass Rommels Soldaten auf ihren Helmen Spiegeleier braten konnten, werden wahr sein. Wir stellen unsere Kreuze auf und marschieren zum nächsten Friedhof. Hier in La Chaussée-Tirancourt wird man Jahre später noch andere Gräber finden, eine große megalithische Grabstätte, tausende Jahre alt. Kurz vor Picquigny, in Belloy-sur-Somme, machen wir unter einem Baum vor einem kleinen Chateau Rast. Herr Schark geht zum Chateau. Er kommt nach einer halben Stunde mit einem livrierten Diener wieder, sie tragen Körbe voll Brot, Schinken und Wein. Der Diener mit der rot-schwarz gestreiften Weste hat sogar an weiße Tischdecken gedacht, die er vor uns auf dem Boden ausbreitet. Es wird mir klar, warum das Organisationsgenie Schark damals so gut mit den Franzosen ausgekommen ist. Das Chateau von Belloy, das wir hinter dem Bäumen des Parks nur schemenhaft sehen, hat für mich etwas Unwirkliches, wie auf einem Bild von Magritte. Später wird man da einen Film mit Klaus Kinski drehen, heute ist es ein Hotel. Alle magischen Orte der Jugend bekommen mit der Zeit in der Realität etwas Profanes, in der Erinnerung bleiben sie märchenhaft.

Einmal haben wir einen Tag frei und fahren mit der Bahn ans Meer. Der Bahnhof von Ailly ist ja direkt vor unserer Haustür. Die Eisenbahn fährt durch die Sommeebene, irgendwann kommen wir in einen Bahnhof, in dem eine blecherne Stimme Ici Abbeville, ici Abbeville plärrt. Am Ende unserer kurzen Reise steht der Bahnhof von ➱Le Tréport. Dies sind die Kreidefelsen von Dover, nur auf der anderen Seite des Kanals. Wir haben den ganzen Tag frei, um die Ortsteile links und rechts der Bresle zu erkunden, den Hafen, den Strand und den Ort oben auf dem Berg. Ich habe einen ganzen Schwarzweißfilm an dem Tag verbraucht, aber nicht schnell geschossen, sondern sorgfältig ausgewogen photographiert. Manches davon hätte noch heute in einem Photoband Bestand: Touristen, die aufs Meer schauen (so wie Cartier-Bresson sie photographiert haben würde), der Hobbymaler in der weißen Leinenjacke, der aussieht wie Winston Churchill, die Fischerboote im Hafen, die auf dem Schlick liegen und warten, dass die Flut kommt. Und natürlich Le Tréport und Mers-les-Bains von oben, die Grenze zwischen Picardie und Normandie verläuft genau hier. Wir können unseren Eltern erzählen, dass wir auch in der Normandie gewesen sind. Proust ist hier auch mit seinen Eltern gewesen, später sind alle Seebäder der Normandie in seinen Roman gewandert. Auch Abbeville hat ihn begeistert, die Kathedrale war Teil seines Ruskin Verständnisses, aber für mich ist Abbeville nur die Lautsprecherstimme, die Ici, Abbeville, ici Abbeville sagt.

Bei einem unserer längeren Märsche werde ich in Picquigny auf der Geestkante sitzen und in das Sommetal hinunterblicken. Vielleicht ist es die gleiche Stelle, die Laurence Sterne in Sentimental Journey beschreibt. Hunderttausende von Soldaten sind hier gestorben. Die Niederung der Somme leuchtet in sattem Grün, auf den langsam vergilbenden Photographien meines Opas ist alles chamois-bräunlich. In Deutschland ist gerade die Bundeswehr begründet worden. 12.900 Offiziere werden im Jahre 1958 noch aus der Wehrmacht stammen. Mein Großvater war hier im Ersten Weltkrieg, mein Vater im Zweiten. Jetzt bin ich hier: Versöhnung über Gräbern. Ich komme nicht auf die Idee, dass ich wenige Jahre später auch in Uniform in Frankreich sein werde (lesen Sie ➱hier mehr).

Auf dem Rückweg treffen wir einen Photoreporter vom Courrier Picard aus Amiens, der uns gesucht hat. Er will eine Reportage über uns machen. Als er sieht, dass ich eine Kleinbildkamera habe (ich habe zum ersten Mal meine ➱Werra mit), will er meine Photos für seine Zeitung haben. Er nimmt mich mit dem Auto mit zu seiner Redaktion, die anderen müssen noch zehn Kilometer laufen. Ich erfahre, dass der blecherne Döschewo nicht nur zwei Pferdestärken hat, sondern dass dieses CV die Steuerklasse (Chevaux Vapeur) bedeutet. Und dass alle Pariser Autonummern auf 75 enden. Das ist nützliches Wissen, mit dem man zu Hause angeben kann. Die Visitenkarte des Reporters klebe ich in mein hellgraues Tagebuch: Max. Hamot photo-Presse 25 Rue d’Amiens Picquigny. Die Zeitung wird eins meiner Photos drucken, ich darf mir auf Redaktionskosten einen neuen Film kaufen. Ich kaufe einen Farbfilm. Für Paris.

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